Eigentlich hätte ich heute über das Kriterium der Innovation sprechen wollen, aber die Kommentare zu meinem Beitrag über Genauigkeit sind so anregend, dass ich dieses Thema vertiefen möchte.
Der Begriff der Genauigkeit hat andere Begriffe auf den Plan gerufen: Plastizität, Plausibilität, Stimmigkeit. „Mir wird etwas deutlich“, heißt es; es gehe darum, „etwas auf eine neue Art zu sehen“, „nicht das, was man schon kennt“. Genauigkeit ist der engste dieser Begriffe, möglicherweise die Voraussetzung dafür, dass etwas plausibel, stimmig erscheint.
Die Literatur sei „die Brille zum Blick auf die Welt“, heißt es in einem Kommentar.Ob ein Kunstwerk genau ist, bemisst sich nicht an der Wirklichkeit. Eine Brille lässt uns die Welt auf eine neue Weise sehen, nämlich scharf. Das Gegenteil wäre demnach die Unschärfe, das Verschwommene. Floskeln und Klischees machen nichts deutlich. Auf Schablonen, die wir erkennen, verschwenden wir keine Vorstellungskraft, und deshalb rufen sie auch nicht jene „angenehme Stimulation des Bewusstseins“ hervor, die Susan Sontag als Wirkung guter Literatur beschreibt.
Wenn ich bei Karl Ove Knausgård Personenbeschreibungen lese wie „Sie war blass und dünn, mit hellen Sommersprossen und rotblonden Haaren“, dann sehe ich nichts auf eine neue Art. Die mangelnde Genauigkeit eines Satzes bestehe nicht darin, dass der Satz die Welt falsch oder schief erfasse, sondern dass er „seine Roman-Welt nur matt oder gar nicht erzeugt“, so ein Kommentator. Wir sehen nur das, was genau benannt wird.
Doch woran bemisst sich in einem literarischen Werk Genauigkeit? Jeder Leser wisse doch, „dass ein Werk allein aus sich selbst die Gesetze ableitet, nach denen es hergestellt, aus nicht anderem als sich selbst gemacht und also autonom ist“, heißt es in Thomas Harlans Heldenfriedhof. Ob ein Kunstwerk genau ist, entscheidet sich nicht daran, ob es die äußere Wirklichkeit abbildet. Es geht um eine innere Stimmigkeit, die entsteht, wenn das Werk seine eigenen Gesetze einhält.
Diese Gesetze offenbaren sich dem Autor oft erst im Schreiben. Vielfach bestehen sie gerade in dem, was NICHT in den Raum des Textes gehört. Die Autonomie eines Texts bestimmt, was aufs Papier kommt und was in den Kopf des Lesers verlegt wird.
Zwei Beispiele aus Werken, in deren Entstehung ich unmittelbaren Einblick hatte: Thomas Harlans Heldenfriedhof handelt von den Tätern des Holocaust, ein Wort wie „Euthanasie“ verbat sich in diesem Text von selbst, sogar als Rollenprosa wäre es ein Fremdkörper gewesen. In Katja Petrowskajas Vielleicht Esther durfte das Wort „Auschwitz“ nicht vorkommen, auch der Spruch über dem Tor musste außerhalb des Textes bleiben. Solches auszusprechen, hätte den Text trivialisiert, und damit wäre seine innere Glaubwürdigkeit, seine stilistische Integrität, aufgehoben worden.
Am leichtesten lässt sich die Frage nach den eigenen Gesetzen eines Romans an seinen Figuren überprüfen. Bei fast allen Büchern, die ich im vergangenen Jahr für die NZZ am Sonntag rezensiert habe, irritierte mich die Figurenrede. Ich nahm den Personen im Roman nicht ab, dass sie so redeten, wie es da stand.
Hat je ein Wehrmachtsoldat vor der Schlacht so geredet bzw. könnte einer so geredet haben? →
Kann ein NS-Täter das sagen? →
Kann jemand so etwas über sich selbst denken? →
Oft hören wir nicht die Figur, sondern ihren Autor: Entweder kommentiert er seine Figur, oder er missbraucht sie als Sprachrohr für das, was er schon immer einmal sagen wollte. In „realistischen“ Romanen, deren Autoren es dabei belassen, uns eine Geschichte zu erzählen, verletzen solche Schlampereien die inneren Gesetze des Erzählens. Dies hat zur Folge, dass die Figuren ihrer Glaubwürdigkeit beraubt werden und das Bild verschwimmt, das wir uns beim Lesen von ihnen gemacht haben. Als Leserin fühle ich mich betrogen: Ich habe dem Autor vertraut, bin ihm in seine erfundene Welt gefolgt, und jetzt zeigt sich, dass ich auf einen Kulissenschwindel hereingefallen bin. Alles aus Pappe.
Es ist nicht kleinlich, diese Genauigkeit einzufordern. Wenn die Gesetze verletzt werden, die eine erfundene Welt im Innersten zusammenhalten, zerfällt die Schöpfung zu Staub und der Bann des Lesens ist gebrochen.