Ich habe mir vorgenommen, das Thema des „Satz-für-Satz“-Beitrags zur Kunst des Dialogs durch einen Page-99-Test zu vertiefen. Doch die Seite 99 ist eine Überraschungsbüchse: Nicht die Figurenrede ist das Aufregende auf Seite 99 von William Gaddis‘ Dialog-Roman JR, sondern eine Beschreibung. In der deutschen Version ist sie für mich unverständlich. Ein Vergleich mit dem Original zeigt, dass auch der Satz von William Gaddis sich kaum entschlüsseln lässt. Allerdings ist hier ein kühner Stil erkennbar, wir erleben etwas in der Sprache selbst. Diesem Stil jedoch machen Marcus Ingendaay und Klaus Modick in ihrer Übersetzung den Garaus – jedenfalls in dieser kurzen Passage auf Seite 99.
Nie und nimmer hätte William Gaddis auf Deutsch das geschrieben, was wir hier lesen. Natürlich kann es keinen zweiten William Gaddis geben, weder auf Deutsch noch in einer anderen Sprache. Der Anspruch ist utopisch, und doch muss sich jede literarische Übersetzung an ihm messen lassen.
Das Werk von William Gaddis ist ein nahezu unbezwingbares Massiv. Etliche Übersetzer waren gescheitert, bevor sich Marcus Ingendaay seinerzeit an The Recognitions (1955) gewagt hatte. Die Übersetzung erschien 1998 unter dem Titel Die Fälschung der Welt, mehr als vierzig Jahre nach dem Original. Für ein Literaturfeature auf Deutschlandradio Kultur über William Gaddis (2013) habe ich Marcus Ingendaay interviewt. Die Idee, dass die Gestalt des englischen Satzes die Gestalt des deutschen Satzes vorgeben soll, halte er „für absoluten Unsinn“. Das führe nur zu schlechtem Deutsch.
Vergessen Sie die Gestalt des Englischen. Man nimmt den Text, zertrümmert ihn in seine Einzelteile und macht aus diesen Einzelteilen wieder etwas Neues.
Schauen wir uns die unzertrümmerte Version der Passage auf Seite 99 im Original an. Lesen auf eigene Gefahr: „Wenn der Autor an seinem Werk arbeitet, muss das auch der Leser“, so William H. Gass über William Gaddis in seinem großartigen Essay „Mr. Gaddis and his Goddam Books“ (in: ders., A Temple of Texts, Champaign 2007).
Ein einziger, unaufhaltsam dahinfließender Satz. Man verliert sich darin, denn der Garten, in den der Autor uns lockt, ist ein Labyrinth aus Wörtern. Auf die Wendungen und Windungen dieses Labyrinths käme niemand anders als William Gaddis, sie sind Ausdruck seines Stils. Bei Gaddis ist die Sprache selbst das Ereignis: Man kann jeden Satzteil für sich betrachten, und man wird immer etwas finden, was man nicht gesucht hat.
Stella moved over the grown grass with the assurance of a nurse up corridors as though she’d brought the indoors with her
Sinngemäß & improvisierend den Wörtern entlang übersetzt (im Folgenden „Wörtlich“):
Stella bewegte sich durch das hochgewachsene Gras mit der Sicherheit einer Krankenschwester auf dem Stationsflur, als hätte sie das Drinnen mit hinaus gebracht.
Ingendaay/Modick:
Stella selbst bewegte sich mit der Sicherheit einer Krankenschwester durch diese Steppe, eine Krankenschwester, die den Stationsflur kurzerhand nach draußen verlegt hatte.
Das Wort „Steppe“ macht aus dem wuchernden Garten eine fremde Landschaft; der Stationsflur ist kein Bild mehr für die Aura von Stella, vielmehr wird diese für einen Moment tatsächlich zu einer Krankenschwester, und der Korridor wird, zumindest sprachlich, „kurzerhand“ in den Garten versetzt.
That horticultural Laocoön of honeysuckle, grape and roses
Wörtlich:
dieser gärtnerische Laokoon aus Geißblatt, Weinrebe und Rosen
Ingendaay/Modick:
dem multi-vegetativen Durcheinander einer Laokoon-Gruppe aus Geißblatt, wildem Wein und Rosen
In Gaddis‘ Pflanzenskulptur gibt es kein Wort zu viel und keins zu wenig. Das „multi-vegetative Durcheinander“ der deutschen Übersetzung ist nicht nur ein Wortmonster, es zerstört eine bewusst gesetzte Lücke. Gerade dieses Durcheinander spricht Gaddis nicht aus: Es steckt in der Laokoon-Skulptur – und damit in unserer Vorstellung.
an excruciating attempt by Japanese crabapple to espalier its unpruned limbs against the studio’s shingles
Wörtlich:
ein quälender Versuch eines japanischen Zierapfels, seine unbeschnittenen Glieder zu den Schindeln des Studios hoch spalieren zu lassen
Ingendaay/Modick:
den entsetzlichen Versuch eines japanischen Holzapfelbaums, mit seinen unbeschnittenen Ästen vor dem Schindeldach des Studios so etwas wie ein Spalier zu bilden
Die Glieder (limbs), die an die verschlungene Laokoon-Figur von vorhin erinnern, fehlen hier. Auch Gaddis‘ mutwillig-elegante Verwandlung des Substantivs „espalier“ in ein Verb wird uns vorenthalten. Stattdessen sehen wir den „entsetzlichen“ Versuch der Äste, „so etwas wie ein Spalier zu bilden“.
Am meisten irritiert mich ein Satzstück ganz am Anfang der Passage:
the robust emanation from the simmering tenderloin
Ingendaay/Modick
die fettdunstende Zumutung eines nach klassischer Hausmacherart zerkochten Lendenstücks
Die „starke Ausdünstung“ verwandelt sich in eine “fettdunstende Zumutung”, und das Lendenstück, das auf Englisch brav vor sich hinsimmert, wird nicht nur „zerkocht“, sondern dies auch noch „nach klassischer Hausmacherart“. Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Doch hier erfinden die Übersetzer Effekte, die der Autor nicht beabsichtigt hat: Es ist, als würden sie die Lautstärke hochdrehen. Action!
Doch in Gaddis‘ Prosa findet die Action woanders statt. Erst in zweiter Linie sind die Worte Bedeutungsträger. In erster Linie dienen sie Gaddis als Material: Er entlockt den Worten Klang, Farbe, Rhythmus.
against the lowering threat of oak
Mit dem letzten Satz ist diese Prosa bei der Lyrik angelangt. In einem unbeirrbaren Rhythmus erdichtet Gaddis eine sich herabneigende Bedrohung, die „von Eiche“ ausgeht, als handle es sich dabei um eine Substanz und nicht um eine Baumart. Das lässt sich nicht in Alltagssprache übersetzen. Außer man tut es:
Ingendaay/Modick:
vor der dumpfen Übermacht der Eichen
Der „Taxus“ soll den Ort vor dieser Übermacht beschützen, auf Englisch yew, zu Deutsch Eibe. Unerfindlich bleibt, warum hier die lateinische Gattungsbezeichnung gewählt wurde, die uns unsinnigerweise auch noch an ein Taxi denken lässt.
Nicht nur mit den Wörtern erlaubt sich diese Übersetzung fahrlässige Freiheiten, sondern auch mit dem Satzbau. Der laokoonisch verschlungene englische Satz mit nur gerade drei Satzzeichen wird wie mit der Axt in vier Sätze zerschlagen. Verschwunden ist das Labyrinth, es wird ersetzt durch überzeichnete Bilder, die nicht recht passen.
Auch das Original ist zweifelhaft, bei aller Schönheit: Der Satz lässt sich grammatikalisch nicht aufdröseln. Ob Gaddis die Kontrolle über seinen Satz entglitten ist? Ob er sich beim Schreiben von Klang, Farbe und Rhythmus seiner Worte davontragen lassen hat? Habe ich auf Seite 99 zufällig eine Passage erwischt, wo ihm etwas misslungen ist? Vielleicht. Und doch ist der Laokoon-Satz charakteristisch für Gaddis‘ stilistischen Anspruch: Er macht mit der englischen Sprache etwas, was keiner vor ihm versucht hat.
Die Übersetzer müssen bei einem unverständlichen Satz natürlich Entscheidungen fällen. Beispielsweise ist nicht klar, wer bei „lead on“ Subjekt ist, ja nicht einmal, wer die Frage stellt „this way? – „: die Frau mit den wiegenden Hüften oder der Mann, der von diesen Hüften die Augen nicht lassen kann.
Dass eine Übersetzung das Was des Originals verändert, ist in einem solchen Fall fast unumgänglich. Was mich irritiert, ist der Umgang mit dem Wie. Bei der Übersetzungsmethode durch Zerlegen und neu Zusammensetzen bleibt von dem, was William Gaddis stilistisch in die Welt gebracht hat, kaum etwas übrig. Interessanterweise hatte Gaddis im deutschen Sprachraum mehr Erfolg als in Amerika, zumindest zur Zeit seiner Entdeckung. Ist dies das Verdienst einer Übersetzung, die uns die Zumutungen des Originals erspart?
JR
Roman
btb-Verlag 2012 • 1040 Seiten • 14,99 Euro
ISBN: 978-3-442-74400-8
