Er hat es gesehen. Und er konnte es sagen.
So beantwortet der Übersetzer Peter Urban in einem Interview die Frage, was Anton Tschechows Geheimnis sei. Die Feststellung ist so schlicht wie genau, und man findet dafür viele Echos in der Literaturgeschichte.
Für Gustave Flaubert bedeutet Schreiben „sichtbar machen“. Marina Zwetajewa macht aus dem Motiv der Sichtbarkeit eine kleine, radikale Poetik:
Das Sichtbare zum Dienst am Unsichtbaren zu versklaven, darin besteht das Leben des Dichters. (…) Und welche Anstrengung des äußeren Sehens ist nötig, um das Unsichtbare ins Sichtbare zu übertragen. (Der ganze schöpferische Prozess!)
Tschechow hat die gesehene Wirklichkeit in Sprache übersetzt. Flaubert wiederum legt in seinen Briefen Zeugnis ab von der Anstrengung, die dieser Realismus dem Schriftsteller abfordert.
Ich werde geschriebene Wirklichkeit vollbracht haben, was selten ist.
(über Madame Bovary)
Der Autor als Schöpfer von Wirklichkeit – es ist nur folgerichtig, wenn Flaubert ihn mit Gott vergleicht.
Der Künstler muss in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.
Am konkreten Text ist so etwas kaum nachweisen. Zeigen lässt sich nur das Gegenteil: wenn ein Autor interpretierend und kommentierend in seinem eigenen Text herumstiefelt.
Etwas sehen und es ausdrücken, erfordert Genauigkeit. Es gilt, das eine Wort zu finden, das die Essenz des Gesehenen, des Erkannten wiederzugeben vermag.
Flaubert:
Die Vollkommenheit hat überall den gleichen Charakter, er liegt in der Präzision und Richtigkeit.
Ezra Pound:
Mit guter Kunst meine ich Kunst, die wahres Zeugnis ablegt, ich meine die Kunst, die am genauesten ist.
Die einfachste Definition für gute Literatur stammt von Samuel Coleridge. Sie beschränkt sich auf die Sprache.
Für Prosa gilt:
words in their best order
Für Dichtung gilt:
the best words in their best order
Literatur erschöpft sich jedoch nicht in Genauigkeit. Sie expandiert unser Sehvermögen in beide Richtungen: zum einen indem sie in die Genauigkeit hineinzoomt, zum anderen indem sie in die Erweiterung des Horizonts hinauszoomt, möglicherweise gar jenseits des Sichtbaren.
Große Kunst habe „einen Appetit für Metaphysik“, so Joseph Brodsky.
Denn, nicht wahr, es ist das Empfinden eines geöffneten Horizonts, das uns in einem Kunstwerk oder einer wissenschaftlichen Erkenntnis beeindruckt.
Von Brodsky stammt die Feststellung, dass ein einzelnes Wort oder ein Reim den Dichter an einen Ort versetzen könne,
wo vor ihm noch niemand war, weiter vielleicht als er selbst zu gehen wünschte.
Doch wie ließe sich nachweisen, dass die Literatur das Unsichtbare sichtbar macht? Und woran bemisst sich das beste Wort am besten Ort?
Je allgemeingültiger ein Kriterium, desto abstrakter seine Formel. Daher kann man sein Urteil nicht an diese poetischen Kriterien delegieren, auch wenn sie fast immer zutreffen. Andererseits gelten Kriterien, die konkrete Forderungen stellen, oft nur für das Mittelmaß. Wer die Regeln beherrscht, darf sie brechen.
Und doch sind die Kriterien der Schriftsteller – ich könnte endlos weiter zitieren, und in den nächsten Folgen von Satz für Satz werde ich dies auch tun – inspirierend für eine lebendige Lektüre. Man kann mit ihnen in einen Text hineinleuchten wie mit einer Taschenlampe. Man sieht genauer und kann unterscheiden, was passiert. Und genau dazu sind Kriterien da, gemäß ihrer Etymologie: als Werkzeug zur Unterscheidung.