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Page 99-Test: Shumona Sinha

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Die Ich-Erzählerin bewegt sich durch eine Stadt. Sie erzählt, was sie sieht.

Kleider, Taschen, Koffer, Schuhe und ein Haufen formloser Dinge, genug, um die Kommoden der geheimnisvollen Königinnen dieses Viertels jenseits der Peripherie zu füllen. Das Ganze wirkte wie eine Bauruine. Ein Ghetto. Ein anderes Land. Jenes, das ich mühsam hinter mir gelassen hatte. Es war unvorstellbar, dass es nicht weit von hier eine lichtdurchflutete Stadt gab.

Die Kommoden der Königinnen füllen sich mit Kleidern, Taschen Koffern, Schuhen – das ist die Kernaussage des ersten Satzes, sie wird ergänzt mit allerhand Zuschreibungen. Allerdings muss man den Satz mehrmals lesen, bis man merkt, dass nicht die Kommoden jenseits der Peripherie gefüllt werden. Gemeint ist wohl, dass sich das Viertel, in dem die Kommoden stehen, jenseits der Peripherie befindet, und damit wiederum ist wohl gemeint, dass sich das Viertel an der periphersten Peripherie befindet. Denn jenseits der Peripherie finge ja etwas Neues an, das wäre dann „jenseits des Stadtrands“. Aber das ist wohl nicht gemeint.

Adjektive

„Das Adjektiv ist der Feind des Substantivs“, sagt Voltaire. Stephen King verlangt vom Adjektiv, es solle nützliche Arbeit leisten, also etwas sagen, was im Substantiv noch nicht enthalten ist. Faule Adjektive sind Blutsauger: Durch ihre Redundanz schwächen sie das Substantiv, dessen Wirkung sie verstärken sollen. (Weiter unten werden wir auf dieser Seite 99 noch „dunklen Höhlen“ und „geheimen Verschlägen“ begegnen, das ist schon nahe am Pleonasmus à la „weißer Schimmel“.)

Die „geheimnisvollen Königinnen“ im oberen Zitat werden durch das Adjektiv allerdings nicht nur ihrer Wirkung, sondern auch eben jenes Geheimnisses beraubt, das durch das Adjektiv heraufbeschworen werden soll. Denn ein Geheimnis, das verraten (oder zumindest angekündigt) wird, ist keins mehr. Die Königinnen auf dieser Seite 99 sind bereits geheimnisvoll – als Königinnen eines Viertels, das auch als Bauruine, Ghetto, anderes Land bezeichnet wird.

In der Literatur ist Wirkung eine Frage der Ökonomie. Die Wirkung des Gesagten wird nicht nur durch unnötige Adjektive untergraben, sondern auch durch die doppelte Verneinung (siehe Page-99-Test zu Garth Risk Hallberg).

Es war unvorstellbar, dass es nicht weit von hier eine lichtdurchflutete Stadt gab.

In Zeitlupe liest sich das so: Es ist nicht vorstellbar, dass es etwas nicht gibt – ach nein, es gibt dasjenige, was nicht vorstellbar ist, aber es gibt es nicht weit von hier, und nicht vorstellbar ist dabei nur der Umstand, dass es das nicht weit von hier gibt. Wir lesen um die Ecke und greifen ins Leere, bis wir endlich auf dasjenige stoßen, von dem nicht vorstellbar ist, dass es das nicht weit von hier gibt: nämlich eine lichtdurchflutete Stadt. Nun ja, die kann es geben. Jedenfalls wenn die Sonne scheint.

Tiere

… jenseits der Peripherie zu füllen. Die Metro hatte mich ans Ende des Tunnels, ans Ende der Welt ins Müllland gebracht, das von den ungeliebten Quallen eingenommen wird.

Die „ungeliebten Quallen“ sind die erste Tiermetapher auf dieser Seite. Wieder benennt das Adjektiv eine ohnehin vorhandene Eigenschaft des Substantivs: Wer einmal beim Schwimmen im Meer von einer Qualle gestreift wurde, geht Quallen aus dem Weg, auch ohne die schlaff am Wort herunterhängende Warnflagge „ungeliebt“. Das Wort „ungeliebt“ lähmt unsere Vorstellungskraft. Die Assoziationen steigen nicht mehr in uns auf, sie liegen bereits vor uns auf dem Papier, wir müssen sie nur aufheben. Streichen wir „ungeliebt“, wird die betäubende Wirkung dieses Adjektivs offenbar. Wir sehen Folgendes:

das Müllland, das von den Quallen eingenommen wird.

Eine stupende Transformation! Auf einmal sind die Quallen tatsächlich da, sie breiten sich aus über die Müllhalden, ersticken und verätzen alles, was unter sie zu liegen kommt. Eine irre Szene, perfekt für einen dystopischen Fantasyroman. Im auf Wortgewalt getrimmten Realismus von Shumona Sinha jedoch offenbart dieser Satz, dass die Metapher mit der Qualle nicht stimmt.

Gleich anschließend heißt es:

Männer lungerten herdenweise herum.

Sind mit den ungeliebten Quallen diese Herden-Männer gemeint? Wer weiß. Ein paar Zeilen weiter:

Herden von Tieren waren im Morgengrauen aus ihren dunklen Höhlen, aus ihren geheimen Verschlägen gekrochen.

Offenbar sind mit den Tieren die Menschen dieses Volks gemeint, dessen Königinnen wir schon begegnet sind. Im nächsten Satz werden diese Menschen als „vereinte und vereinzelte Bürger des globalen Dorfs“ erscheinen.

Wiederholungen

Redundanz ist das Problem dieses Texts. Dies gilt nicht nur für die Adjektive, sondern auch für den Versuch, die Wirkung der Worte durch Wiederholung zu steigern.

  • Das Ganze wirkte wie eine Bauruine. Ein Ghetto. Ein anderes Land.
  • Die Metro hatte mich ans Ende des Tunnels, ans Ende der Welt (…) gebracht.
  • aus ihren dunklen Höhlen, aus ihren geheimen Verschlägen

Hinter scheinbarer Ähnlichkeit blieben die vereinten und vereinzelten Bürger des globalen Dorfs für sich, voneinander getrennt. Jeder Einzelne eine eigene Welt. Jeder Einzelne eine einzigartige Welt, ein Chaos.

Die „vereinten Bürger“ sind nicht nur „vereinzelt“, sie bleiben auch „für sich“, sind „voneinander getrennt“. Jeder von ihnen ist „eine eigene Welt“, und zwar „eine einzigartige Welt“. Fünf Mal wird das Gleiche gesagt. Die Sprach-Artistik mit den Wörtern vereint, vereinzelt, Einzelner, einzigartig ist Kunstgewerbe. Sie dient dazu uns zu sagen, was wir längst wissen: dass die Vereinigung im globalen Dorf (was für ein Klischee!) in Wahrheit nicht stattfindet, weil jeder ein Einzelner bleibt, als solcher aber einzigartig ist.

Rätsel

Tief im Inneren grummelten schlaflose Vulkane.

Dieser Satz ist so rätselhaft wie die Invasion der Quallen. Auch hier begegnen wir einem zweifelhaften Adjektiv. Inaktive Vulkane werden gern als schlafend bezeichnet, doch das ist nicht nur ein Klischee, sondern auch Unsinn, wie Shumona Sinhas Umkehrung zeigt: Ein schlafloser Vulkan wäre einer, der gerne schlafen möchte und nicht kann.
Das eigentliche Rätsel dieses Satzes besteht allerdings in etwas anderem. Im Inneren wovon grummeln diese schlaflosen Vulkane?

Der vorhergehende Satz hilft hier nicht weiter, er ist vielmehr selbst ein Rätsel:

Die Burger von McDonald’s und die ausgewaschenen Jeans erwecken den Anschein von Demokratie.

Was hat die Herrschaft durch das Volk mit Fastfood und ausgewaschenen Jeans zu tun? Wahrscheinlich will die Autorin damit ausdrücken, dass die Armut in diesem Viertel etwas Demokratisches an sich habe, weil gleichmäßig verteilt.

Der Fairness halber seien zum Abschluss die beiden schönen Sätze zitiert, die mir bei der Lektüre aufgefallen sind – auch wenn sie diese Seite 99 nicht werden retten können:

Ich ging an ihnen  vorbei, durch ihre Blicke hindurch, die mich einfangen wollten.

Ein schwerer, gemeiner Regen. Der Wind stachelte ihn weiter an.

Fazit:

Um diese Prosa zu verstehen, muss man das imaginäre Auge unscharf stellen. Man errät, was gemeint ist, doch das ist nicht das, was da steht. Shumona Sinhas Roman sei eine „so wütende wie poetische und präzise Suada“, meint die Jury des Internationalen Literaturpreises 2016, die Rede ist von „ungebärdigen, die Wirkmacht der Sprache auslotenden poetischen Widerhaken“ und einer „kraftvollen“ Übersetzung durch Lena Müller. Das einzige, mit dem ich bezüglich der Seite 99 einverstanden bin, sind die poetischen Widerhaken, nur loten diese nichts aus, schon gar nicht die Wirkmacht der Sprache. Eher wird diese unterspült durch das, was auf den ersten Blick so ungebärdig erscheint.

Ich sehe hier eine Autorin, die unbedingt etwas sagen will, es deutlich sagen will, es daher wieder und wieder sagen zu müssen meint – weil sie ihren Worten nicht vertraut.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Sieglinde Geisel
Coverbild: Edition Nautilus
Angaben zum Buch
Shumona Sinha
Erschlagt die Armen
Roman
Edition Nautilus 2015 · 128 Seiten · 14,99 Euro
ISBN: 978-3-86438-183-6
Cover Sinha

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