Am 14. 09. 1930 marschierte die NSDAP auf einen Schlag mit 107 Abgeordneten in den Reichstag ein. Über diesen verstörenden Wahlausgang kam es zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Stefan Zweig und Klaus Mann. Zweig hatte um Verständnis für die Wahlentscheidung geworben, die er als Aufstand der Jugend oder eher der Jugendlichkeit ansah:
Stefan Zweig sprach von einer
im Innersten natürliche(n) und durchaus zu bejahende(n) Revolte der Jugend gegen die Langsamkeit und Unentschlossenheit der hohen Politik
er verteidigte sogar den Hass der Nazis:
Sie (die Jugend, HF) hat einen redlichen, gesunden und prachtvollen Haß gegen die niederträchtige Langsamkeit der Altmännerdiplomatie.
Klaus Mann konterte:
Mit Psychologie kann man alles verstehen, sogar Gummiknüppel. (…) Radikalismus allein ist noch nichts Positives, und nun gar, wenn er sich so wenig hinreißend, sondern so rowdyhaft und phantasielos manifestiert wie bei unseren Rittern vom Hakenkreuz.
Mit den Nationalsozialisten sei Kommunikation unmöglich, nichts an ihnen verweise auf die Zukunft. Dabei finden sich in Klaus Manns Frühwerk, mit seiner rauschhaften Amoralität, durchaus Assonanzen zum „intellektuellen“ Flügel des Nationalsozialismus, wie Uwe Naumann in seiner Biografie nachgewiesen hat.
Wie Golo Mann („Erinnerungen an meinen Bruder Klaus“) und Marcel Reich-Ranicki betonen, war es dieser Streit, zusammen mit einer kurz zuvor erschienenen Abrechnung von Klaus Mann mit Ernst Jünger, mit der Mann zu einem ernstzunehmenden Schriftsteller wurde. Es war jedenfalls konsequent, dass die erste wichtige literarische Debatte zwischen den Emigranten und den „drin Gebliebenen“, wie es damals hieß, im Frühjahr 1933 von Klaus Mann in Gang gesetzt wurde – durch seinen Brief an Gottfried Benn. In diesem Brief, privat gehalten, fragte Mann, der Benn bewunderte und gerüchteweise schon von dessen „Umfallen“ gehört hatte, höflich nach, ob er sich denen wirklich „zur Verfügung stellen“ wolle. Benns „Antwort an die literarische Emigration“ wurde dann über den Berliner Rundfunk gesendet.
An diese Auseinandersetzung zwischen Mann und Zweig musste ich denken, als ich las, mit welch gelassener Souveränität Sibylle Berg die AfD-Wahl in ihrer Spiegel-Kolumne kommentiert. Sie ist nicht weit von Stefan Zweig entfernt, wenn sie im Gestus der Verständnisvollen verkündet, sie würde allein schon aus Trotz am liebsten AfD wählen („Extra!“, wie sie betont). Die Kritik an dieser Partei sei „zwangsweise Gleichschaltung der öffentlichen Meinung“ – womit Berg, nebenbei, dem Gerede von der Lügenpresse auf den Leim geht.
Aber gegen aufgezwungenes Mainstreamdenken zu sein, ist ja schon mal ein verlockender Wert an sich. Dieses „Leckt mich mit eurem Gutmenschenscheiß“, um die scheinbar machthabende Gesellschaft zu schockieren. Um aus dem Einheitsmeinungsbrei zu fliehen, sich zu wehren. Verständlich.
Was unterscheidet Bergs Haltung vom „redlichen, gesunden und prachtvollen Hass“ bei Zweig? Nicht viel.
Die AfD ist nicht die NSDAP, ihre Klientel sind keine Nazis. Die aggressive Stimmung, die die AfD bedient, ist jedoch schlimm genug. Es hat mit moralischer Schnappatmung nichts zu tun, Rassismus Rassismus zu nennen. Wenn ein AfD-Landtagskandidat in Sachsen-Anhalt, Felix Zietmann, den Angriffskrieg gegen Griechenland auf Facebook lustig-lustig als „Griechenlandurlaub 1941“ bezeichnet – 150.000 Ermordete, darunter 80.000 griechische Juden –, dann ist er mehr als nur „kein ausufernder Freund der Gleichberechtigung“, wie Sibylle Berg es verharmlosend nennt. „Nicht besonders verwöhnt mit internationalem Denken, mit Offenheit, keine stilistischen Feinschmecker“ seien die knapp 30 % AfD-Wähler. So kann man es natürlich auch nennen, wenn ein hasserfüllter Mob allen Ernstes glaubt, Deutschland solle „umgevolkt“ werden, „Widerstand“ gegen die „Volksverräterin Merkel“ sei vonnöten.
Sibylle Berg ist nicht Stefan Zweig, ich bin nicht Klaus Mann, und der 13. März 2016 war nicht die Septemberwahl von 1930. Damit das so bleibt, schlage ich lieber einmal zu oft Alarm.
Bild: AfD-Wahlveranstaltung, by opposition24.de. Lizenz: CC BY 2.0