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Gefährliche Gerüchte

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Gerüchte, Klischees, Vorurteile spielen eine erhebliche Rolle für unseren Blick auf die Welt. Ohne Klischees, ohne Wirklichkeitsverkürzungen kämen wir nicht aus, so Hannah Arendt, wir wären mit der Organisation unserer Wahrnehmung überfordert.

„Klischees, gängige Redensarten, konventionelle, standardisierte Ausdrucks- und Verhaltensweisen haben die gesellschaftlich anerkannte Funktion, gegen die Wirklichkeit abzuschirmen, gegen den Anspruch, den alle Ereignisse und Tatsachen kraft ihres Bestehens an unsere denkende Zuwendung stellen. Wollte man diesen Anspruch ständig erfüllen, so wäre man bald erschöpft.“

(Vom Leben des Geistes, Band 1)

Problematisch würde es erst, wenn wir unsere denkende Zuwendung völlig preisgäben, uns aus dem Dunst des Trüben und Ungefähren gar nicht mehr herausbewegten, sondern alles Denken und Tun ausschließlich dem Gerücht, dem Klischee, dem Vorurteil unterstellten. Dass dies nicht nur für heute gilt, etwa in unserer Wahrnehmung des IS, zeigt eine fast 200 Jahre alte Geschichte.

Die Ermordung August von Kotzebues – zeitgenössischer Kupferstich von 1820

Die Ermordung August von Kotzebues – zeitgenössischer Kupferstich von 1820

Am 23. März 1819 erdolchte der aus Wunsiedel stammende Jenaer Burschenschafter und Theologiestudent Karl Ludwig Sand den als reaktionär geltenden Dichter August von Kotzebue – ein umtriebiger Vielschreiber. Kotzebues Geschichte des deutschen Reichs war zuvor 1817 auf dem Wartburgfest von Studenten verbrannt worden, unter ihnen der spätere Mörder Sand. Gleichzeitig wurde Kotzebue in radikalen Studentenkreisen vorgeworfen, er sei ein Spion des Zaren. Nahrung erhielt dieses Gerücht durch einen herablassenden Bericht Kotzebues über die Zeitschrift Nemesis, den er für den Zaren verfasst hatte. Dieser Bericht wurde ihm offenbar gestohlen und dann veröffentlicht – vermutlich, um ihn bloßzustellen. Kotzebue war fortan Hassobjekt der liberal-patriotischen Bewegung, sozusagen deren Franz-Josef Strauß. Bei der Teutonia, deren Mitglied Sand war, dürfen wir zwar nicht an heutige Burschenschaften denken – unproblematisch war die deutsche Nationalbewegung allerdings auch damals nicht. Auf dem Wartburgfest wurden nicht nur Kotzebues Bücher verbrannt, sondern z. B. auch Saul Aschers, verbunden mit wüsten antisemitischen Reden. Nicht ohne Grund resümierte Heine später, 1848 in seinem Gedicht Michel nach dem März:

Doch als die schwarz-rot-goldene Fahn,
Der alt germanische Plunder,
Aufs neue erschien, da schwand mein Wahn
Und die süßen Märchenwunder.

Ich kannte die Farben in diesem Panier
Und ihre Vorbedeutung:
Von deutscher Freiheit brachten sie mir
Die schlimmste Hiobszeitung.

Schon sah ich Arndt, den Vater Jahn –
Die Helden aus anderen Zeiten
Aus ihren Gräbern wieder nahn
Und für den Kaiser streiten.

Die Burschenschaftler allesamt
Aus meinen Jünglingsjahren,
Die für den Kaiser sich entflammt,
wenn sie betrunken waren.

Ich sah das sündenergraute Geschlecht
Der Diplomaten und Pfaffen,
Die alten Knappen vom römischen Recht
Am Einheitstempel schaffen –

(Auch das gehört, nebenbei bemerkt, zu „schwarz-rot-gold“. Dazu vielleicht ein andermal.)

Metternich

Metternich

Sands Terrorakt nahm Klemens Wenzel Lothar von Metternich, nebst anderem, zum Anlass, sich mit diversen deutschen Staaten, Preußen vorneweg, in Karlsbad klandestin auf die dann so genannten Karlsbader Beschlüsse zu verständigen. Der Bundestag, der formal zuzustimmen hatte, wurde regelrecht überrumpelt. Vereinigungsverbot, Vorzensur, eine zentrale Ermittlungsstelle in Mainz, die die nicht vorhandene Verschwörung aufdecken sollte, die Exekutionsordnung (Einschränkung der Souveränität der Einzelstaaten) waren das Ergebnis. Kurz: der Polizeistaat des Biedermeier, des Vormärz, die sogenannte Demagogenverfolgung.

Metternich sprach vom „vortrefflichen Sand“, der ihm mit dem Terrorakt Munition gegen die freiheitlich-patriotische Bewegung in die Hand gegeben hatte:

„Ich für meinen Teil hege keinen Zweifel, daß der Mörder nicht aus eigenem Antriebe, sondern in Folge eines geheimen Bundes handelte. (…) Meine Sorge geht dahin, der Sache die beste Folge zu geben, die möglichste Partie aus ihr zu ziehen, und in dieser Sorge werde ich nicht lau sein.“

Metternich reagierte also auf ein Attentat, das nicht zuletzt durch ein unbewiesenes und wohl unwahres Gerücht ausgelöst wurde, mit einem massiven, unwahren Gegengerücht. Die Macht des Gerüchts darf innerhalb einer politischen Kultur nie unterschätzt werden, deren Entscheidungen auf öffentliche Zustimmung angewiesen sind. Gerüchte gibt es immer, aber in Krisenzeiten können sie eine tödliche Wirkung entfalten.

Wer Parallelen zu den Ereignissen der letzten Tage sieht, der irrt wohl nicht. Der IS, das ist erst einmal das Gerücht über ihn, verbreitet von „Terrorismusexperten“ (was ist das? kann man das lernen?), von selbsternannten Insidern, die „es ja wissen müssen“. In Europa leben 50 Millionen Muslime. Das ist kein Gerücht, und kein Gerücht ist auch, dass mitnichten in jeder Stadt, an jedem Tag in Europa Bomben explodieren.Wenn wir derzeit überhaupt etwas wissen, dann doch wohl dies: Der IS wurde von Saddam Husseins Geheimdienstlern gegründet, also von ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei – einer säkularen Partei, die zum Beispiel eine Bodenreform sowie bessere schulische Ausbildung für Mädchen mit mörderischer Gewalt gegen alle Gegner verband. Mit einem „politischen Islam“ hatte dieser „arabische Sozialismus“, der z.B. auch den Frauenschleier abschaffte, nicht das Geringste zu tun. Saddams Täusch- und Tarnexperten sehen im Warlord-Dasein – Raubrittertum hätte man es im Spätmittelalter genannt – offenbar einfach eine Lebensperspektive. Die westeuropäischen Franchise-Nehmer des IS sind bis jetzt ausnahmslos vorher als gewöhnliche Gewaltkriminelle in Erscheinung getreten. Wir reden hier nicht über massenhaft in Erscheinung tretende Gotteskrieger, gegen die ein neuer Karl Martell aufzubieten wäre, um sie bei Poitiers abermals zu schlagen, sondern über perspektivlose, psychisch kaputte Amokläufer. Woher wir das wissen? In Europa leben 50 Millionen Muslime. Das ist kein Gerücht, und kein Gerücht ist auch, dass mitnichten in jeder Stadt, an jedem Tag in Europa Bomben explodieren. Kein Gerücht ist im Weiteren, dass die Opferzahlen nur schon des „westlichen“ Drohnenkriegs in muslimischen Ländern die des „muslimischen“ Terrors in Europa deutlich übertreffen. Wie viele Tote die Kriege gegen den Terror, zur Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft, insgesamt gekostet haben, ist derzeit unbekannt. Vorsichtige Schätzungen sprechen von 68.000 Opfern in Afghanistan seit 2001 und von mehreren 100.000 Toten im Irak von 2003 bis 2011.

Zurück zu Sand, Kotzebue, Metternich und Karlsbad: Auch im Vormärz „wusste“ die politische Polizei immer ganz genau Bescheid, über Büchner, über Weidig, über alles und jeden – nur den Ausbruch der Revolution 1848 hat sie dann leider verpasst. Soviel zum Wissen/Kenntnisstand der „Experten, die es ja wissen müssen“.

Karl August Sand versuchte noch unmittelbar nach dem Attentat, sich mit dem Tatmesser selbst zu entleiben. Das schlug fehl, fortan hatte er eine offene, eiternde Wunde während der Festungshaft. Ein Gnadengesuch lehnte er ab. Er wollte für die Freiheit sterben. Aber vielleicht ist auch das nur ein Gerücht über ihn.

Bilder:
Headermontage – Wüste auf dem Weg nach Palmyra (Cristian Iohan Ştefănescu: CC BY 2.0) / Die Hinrichtung des Carl Ludwig Sand (Kupferstich, gemeinfrei)
Die Ermordung August von Kotzebues (Kupferstich, gemeinfrei)
Thomas Lawrence: Fürst Klemens Wenzel von Metternich (Ölgemälde, gemeinfrei)

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