Mit der Literatur verhält es sich wie mit dem Witz: Eine Geschichte ist nur so gut, wie sie erzählt wird. Umso mehr, als es in der Literatur oft dieselben Geschichten sind, die immer wieder neu gestrickt werden, seien es Variationen von „Peter liebt Lisa, Lisa liebt Paul“ oder die archetypische Heldenreise in Märchen, Mythen und Entwicklungsromanen.
Zwei Dinge ändern sich in in jeder neuen Version: die Ausstattung – Milieu, Atmosphäre, Schauplatz, Epoche, Figuren – und die Art und Weise, in der die alte Geschichte neu erzählt wird. Dieses Wie des Erzählens ist an der Oberfläche meist kaum zu sehen, es steckt zwischen den Zeilen und in den Worten. Deshalb ist es viel schwieriger dingfest zu machen als das Was.
Wenn man über das Wie eines Texts zu sprechen beginnt, gerät man rasch auf das Feld des Geschmacks – ein heikler Begriff, das Geschmacksurteil hat in der Kritik keinen guten Ruf. Geschmack ist subjektiv, deshalb lässt sich über ihn bekanntlich so schön streiten. „Geschmack“ im Sinn eines ästhetischen Urteils ist im 18. Jahrhundert über das Französische („il a du goût“) als Lehnwort ins Deutsche eingewandert.
Es gibt mindestens zwei gute Gründe dafür, dass sich dieser Begriff gehalten hat. Zum einen besagt er, dass man die Verantwortung für sein Geschmacksurteil nicht delegieren kann, denn schmecken kann jeder nur mit seinem eigenen Mund. Zum anderen verrät er, dass die ästhetische Urteilskraft im Körper sitzt.
Dichtung scheine ihm mehr etwas Körperliches zu sein als etwas Intellektuelles, so der Dichter A. E. Houseman in seinem Vortrag The Name and Nature of Poetry (1933, Cambridge University).
Ich kann Dichtung so wenig definieren wie ein Terrier eine Ratte. Aber ich denke, wir beide erkennen das Objekt an den Symptomen, die es bei uns hervorruft
- Ein erstes Symptom, so Houseman, bestehe darin, dass ihm ein Schauer den Rücken hinunterfahre und sich die Haare aufstellten
- Ein zweites Symptom sei „eine Verengung der Kehle und das Austreten von Wasser aus den Augen“
- Für das dritte bedient sich Houseman bei einem Brief von Keats, der in Bezug auf seine Verlobte schreibt: „alles, was mich an sie erinnert, geht wie ein Speer durch mich hindurch.“
Die Schlussfolgerung von Houseman:
Der Sitz all dieser Empfindungen ist die Magengrube.
In der Magengrube findet sich das Nervengeflecht des Solarplexus – und unser Verdauungsorgan. Die Sprache weiß, dass Lesen etwas mit Essen zu tun hat: Wir sprechen von unersättlichen Lesern, die Bücher verschlingen, wir kennen den Lesehunger und (etwas unappetitlich) das Lesefutter.
In einem Brief beklagt sich Samuel Beckett über Ringelnatz, dessen Gedichte ihm bei seiner Deutschlandreise 1936/37 empfohlen worden waren:
this is literature that nourisheth not.
Der biblische Duktus, in den Beckett verfällt, ist ernst gemeint. Die Kunst öffnet uns, wie die Religion, einen Raum jenseits des Alltags, einen „sacred space“. Die Kathedrale des Lesens errichtet sich überall dort, wo jemand ohne Ablenkung liest, dafür mit der Bereitschaft, sich von den Sätzen berühren zu lassen (noch ein Körperwort, übrigens). In einer Kathedrale herrscht ein anderer Zeitbegriff: Nun erweist sich, ob ein Buch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Denn dass ein Text etwas taugt, merkt man daran, dass er das Lesen bremst, weil die Sprache uns erregt. Man spürt die Wörter auf der Zunge, lauscht in den Resonanzraum des Körpers und genießt die Gegenwart eines lebendigen Geists, der sich ausgedrückt hat, vielleicht Jahrhunderte bevor wir seine Worte lesen.
Damit allerdings sind wir an der Grenze dessen angelangt, was der Körper uns über ein Buch verrät: Er weiß, dass es gut ist, aber er kann nicht sagen, warum. Hier beginnt das intellektuelle Abenteuer des Lesens: Womit lässt der Text unser Herz schneller schlagen, was raubt uns den Atem, jagt uns einen Schauer den Rücken hinunter?
In Satz für Satz 2 geht es um Kriterien.