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Satz für Satz 2: Aufladung

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Der Körper liefert uns beim Lesen Signale, doch er kann nicht sprechen. Über die Merkmale dessen, was ihn in Erregung versetzt, kann er so wenig Auskunft geben wie der Terrier im Text von E. A. Houseman.

Emil Staigers Aufforderung, wir sollten „begreifen, was uns ergreift“, richtet sich nicht an den Bauch, sondern an den Kopf. Es ist ein intellektuelles Vergnügen herauszufinden, welche Worte und Vorstellungen uns fesseln, erschüttern – oder auch langweilen.

Es ist ein Vergnügen, und es ist Arbeit, denn in dieser Forschung besteht das eigentliche Handwerk der Literaturkritik, überhaupt das Wesen jeder antwortenden Lektüre. Ohne Kriterien und Maßstäbe ist diese Arbeit nicht zu leisten.

Doch woher nehmen? Zum Beispiel von denen, die die Texte schreiben, die wir untersuchen, also den Autorinnen und Autoren.

Das Vergnügen ist keineswegs ein unfehlbarer kritischer Leitfaden, aber es ist der am wenigsten fehlbare.

So W. H. Auden in seinem Essay Reading. Das Kriterium des Vergnügens („pleasure“) nennt er nicht ohne Vorbehalt, denn es ist nah am Bauch. Das Vergnügen steht als Kriterium jedem Leser zur Verfügung: Kinder lassen sich in ihrer Lektüre noch ganz von ihrem Vergnügen leiten, darauf verweist Auden sogleich,  allerdings unterscheide das kindliche Vergnügen noch nicht zwischen Genres und Ansprüchen. Ab vierzig, so Auden weiter, könne man seine Lektüre wieder am eigenen Vergnügen ausrichten, „sofern wir bis dahin unser authentisches Selbst nicht gänzlich verloren haben“.

Ästhetische Urteilskraft ist für Auden eine Frage der persönlichen Reife: In den Jahren zwischen zwanzig und vierzig seien wir damit beschäftigt herauszufinden, wer wir seien. Wenn daher jemand in diesem Alter sage, er wisse, was ihm gefalle, sage er in Wahrheit: Ich habe keinen eigenen Geschmack, sondern akzeptiere den Geschmack meines kulturellen Milieus. Das sicherste Zeichen dafür, dass jemand in diesem Alter in Sachen Kunst einen genuin eigenen Geschmack habe, bestehe gerade in der Unsicherheit.

Auden nennt in diesem Essay ein weiteres Kriterium:

Ein Zeichen dafür, dass ein Buch literarisch von Wert ist, besteht darin, dass man es auf verschiedene Weisen lesen kann.

Den minderen Wert von Pornografie wiederum erkenne man daran, dass man „zu Tränen gelangweilt“ werde, wenn man sie auf eine andere als die intendierte Weise zu lesen versuche.

Was ist die Voraussetzung dafür, dass ein Werk verschiedene Lesarten zulässt? Laut Ezra Pound zeichnet sich Dichtung dadurch aus, dass  sie Sprache „effizient verwendet“:

Große Literatur ist schlicht Sprache, die bis zum Äußersten mit Bedeutung aufgeladen ist.

Wenn Sprache bis zum Äußersten mit Bedeutung („meaning“) aufgeladen ist, dann transportiert sie mehr als nur einen Sinn.

Jedes Wort ist ein Strahlenbündel.

Dieser Satz von Ossip Mandelstam über Dante wirkt wie ein Echo zu Ezra Pounds Theorie der Aufladung von Sprache. Mandelstam erklärt, wie das Wort seine Bedeutungen abstrahlt:

Der Sinn bricht in verschiedene Richtungen aus ihm hervor und eilt nicht auf den einen, offiziellen Punkt zu.

Wenn ein Satz mehrere Bedeutungen abstrahlt, liest man automatisch langsamer. Erst nach und nach erfasst man, womit die Worte aufgeladen sind. An anderer Stelle spricht Pound von „energetisierter Sprache“, und Virginia Woolf teilt Texte danach ein, ob sie ihr Lebensenergie entziehen oder zukommen lassen. Diesen Energiezufluss oder –abfluss nimmt man spontan mit dem Körper wahr, etwa indem man beim Lesen einschläft.

Aufgeladene Sprache ist kein bloßes Vehikel für den Transport von „Inhalt“, kein Werkzeug der Mitteilung. Sie gewinnt Autonomie. Weil sich die Bedeutungsvielfalt der Kontrolle des Autors entzieht, ist ein guter Text „klüger als sein Autor“ (so eine Floskel aus der Literaturwissenschaft). Ein offenes Kunstwerk entwickelt ein Eigenleben. Deshalb lässt sich Literatur, die etwas wert ist, nicht erschöpfend deuten. Sie entfaltet für jeden neuen Leser und bei jeder neuen Lektüre einen neuen Sinn. Diese nie erlahmende schöpferische Kraft eines Werks offenbart sich allerdings oft erst mit der Zeit.

Im nächsten Beitrag von „Satz für Satz“ geht es um das Kriterium der Genauigkeit.

Literatur:
  • Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich, 1961
  • W.H. Auden: Reading. In: W.H. Auden: The Dyer’s Hand and Other Essays. New York, 1989
  • Ezra Pound: How to Read. In: T. S. Eliot (ed.): Literary Essays of Ezra Pound. London 1968
  • Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante. In: Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays 1925-1935. Frankfurt am Main 2004
Bild:
Gewitter über Zwickau, via Wikimedia Commons
Von André Karwath aka Aka
Lizenz: CC BY-SA 2.5

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